Es ist erschreckend, was in den vergangenen Tagen ehemalige Turnerinnen
berichten. Es wühlt auf und fordert zum Nach- und Umdenken im Leistungssport
auf. Was ist der Hintergrund dieser Berichte, die auch über Social-Media-
Kanäle von den Turnerinnen selbst veröffentlicht wurden? Unter anderem sind
es Trainingsmethoden, Kontrolle über Essverhalten und enormer Leistungsdruck
und damit verbundene Versagensängste, die von den Turnerinnen beschrieben werden.
Fast alle Sportlerinnen, die Sich zu Wort melden, haben ihre leistungssportliche
Karriere bereits beendet. Tragisch ist es, dass Sie erst jetzt – zum Teil Jahre später –
Kraft und Mut finden, sich öffentlich zu äußern. Tragisch ist auch, dass es niemanden
gab, an den Sie Sich in ihrer Not vertrauensvoll wenden konnten. Das wirft
einen gewaltigen Schatten auf Verbände und Verantwortliche.
Leistungssport fordert viel: Talent, Disziplin, Fleiß und Durchhaltevermögen. Erfolge
und die damit verbundene motivierende Freude stellen sich oft erst nach Jahren
harter Trainingsarbeit ein. Gerade beim Turnen beginnen die Sportlerinnen
schon im Alter von zehn bis zwölf Jahren mit einem wöchentlichen Trainingsaufwand,
der nicht selten bis zu 20 Stunden umfasst. Es sollten alle Beteiligten – die Turnerinnen
selbst, Eltern, Schule und Trainerteam über eine der jeweiligen Turnerin angepasste
Trainingsarbeit informiert sein. Es ist wichtig, dass sich jede Sportlerin zu
jeder Zeit und ohne Sanktionen befürchten zu müssen, vertrauensvoll an ihre Trainerin
oder sonstige Vertrauensperson wenden kann. Und ja, in dieser beim Turnen
entscheidenden Aufbauphase erleben junge Sportlerinnen körperliche und mentale
Entwicklungen, die ihrem geliebten Sport manchmal im Wege stehen. Doch
niemals darf eine Sportlerin durch Essverbote, Bloßstellungen, Straftraining noch
Sonst irgendwie gedemütigt werden. Richtig ist, dass die beteiligten Verbände
sich sofort an eine umfassende Aufarbeitung der Vorwürfe gemacht haben. Einmal
mehr wird deutlich, wie wichtig es war, dass sich der organisierte Sport jüngst mit
dem „Safe Sport Code“ ein verpflichtendes Regelwerk gegeben hat, um interpersonelle
Gewalt zu verhindern. Die Umsetzung wird ein langer Weg. Es gibt im Interesse aller
Beteiligten hierzu keine Alternative. Es geht nicht um Leistung um jeden
Preis. Es geht um eine Kultur des Hinschauens und des Hinhörens. Es geht um
Leistung mit Respekt.
Ingelore Rosenkötter